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Der Fall Karin Riemenschneider
Im Haus von Kriminalhauptkommissar a. D. Heiner Riemenschneider begießt man die Ankunft des gemeinsamen Schulfreundes und ehemaligen Berliner Chefkochs Klaus Sommer, der nach dem Unfalltod seines Bruders, die elterliche Pension übernehmen will. Und eine zweite Person kehrt zurück: Riemenschneiders Ehefrau Karin, seit dem Zeitpunkt ihrer Entführung vor zehn Jahren verschwunden, mit gebrochenem Genick im Kofferraum eines weißen Mercedes und einem Personalausweis, in dem der Name ihrer vor elf Jahren verstorbenen Zwillingsschwester steht. Spuren einer versuchten Vergewaltigung, eine Bisswunde an der Schulter sowie fragwürdige Medikamente und 15.000 DM in kleinen Scheinen, die man beim Aussortieren der Kleidung findet, passen nicht ins Bild von einer Floristin, die in den letzten Wochen ihres Lebens ohne Arbeit dastand. Leseprobe „Das … Ich fass es nicht!“ Der Ton weigerte sich, seine Kehle zu verlassen. Schweigend ging er ein weiteres Mal um den leblosen Körper herum. Mit zusammengezogen Brauen betrachtete er die Kleidung der Ermordeten: die helle Wildlederjacke mit Pelzkragen, den altrosafarbenen Angorapulli, die anthrazitfarbene Stoffhose und die schwarzen Stiefeletten mit Ledersohle. Schließlich strich er sich durch die Barthaare, ging in die Hocke, und während seine Finger kleine Kreise in den Schnee malten, starrte er auf ihre Hände. Hände, die von Arbeit gezeichnet waren, trotz der lackierten Fingernägel. Neben einem hellblauen Lidschatten und Wimperntusche ließen sich Reste eines Make-ups erahnen. Auf ein tadelloses Äußeres hatte Karin stets geachtet. Einst war sie die Liebe seines Lebens. Vor achtundzwanzig Jahren hatte er sie kennengelernt und zwei Jahre später geheiratet. Sie war die Mutter seiner Tochter. Dann, vor zehn Jahren, war sie das Opfer einer Entführung geworden. Seit jenem Tag hatte er nie wieder etwas von ihr gehört. Riemenschneider brach seine Gedankengänge ab. Voller Tatendrang schüttelte er seine Mähne in den Nacken und schaute seinem Gegenüber in die Augen: „Franz, was meinst du? Wie lange ist sie tot?“ Der zuckte mit den Schultern: „Es hat kaum Verwesung stattgefunden. Doch, wenn man den Frost der vergangenen Tage berücksichtigt ... Ich tippe auf eine Woche.“ „Und die Todesursache?“ „Bisher kann ich nur eines mit Sicherheit sagen: Ihr Genick ist gebrochen.“ Der Gerichtsmediziner ignorierte großzügig das bedrohliche Funkeln in den Augen des Freundes. „Der oder die Täter haben sie anschließend in den Kofferraum gelegt. Die Mitarbeiter des Abschleppdienstes haben ausgesagt, dass der Kofferraumdeckel, im Gegensatz zu den übrigen Wagentüren, nicht abgeschlossen war.“ Riemenschneider räusperte sich. Doch dann spürte er Deckers Hand auf seinem Knie. „Später, Heiner!“, erklärte der in vertrautem Bariton. „Später sind wir klüger.“ Der ehemalige Staatsdiener richtete sich auf und ließ Toni Hilgert von der Spurensicherung passieren, der bereits sein Equipment zusammengepackt hatte. „Außer einem Dutzend Fingerabdrücken haben wir nichts gefunden.“ Der korpulente Beamte verzog die Mundwinkel. „Tut mir leid, Heiner. Jungs, bis heute Abend habt ihr unseren Bericht!“ Peter Jakobi ließ seinen Schal im Inneren seiner Jackentasche verschwinden. Er ging ein paar Schritte auf und ab. Sein linkes Knie schmerzte. Erste Anzeichen einer beginnenden Arthrose hatte der Arzt gesagt. Schließlich rempelte er seinen Kollegen Wilfried Nickel von der Seite an: „Habt ihr Papiere oder Wertsachen bei der Toten gefunden? Vielleicht müssen wir ...“ Dann blickte er zu Riemenschneider hinüber, der ihm wie selbstverständlich zunickte. „Vielleicht müssen wir jemanden benachrichtigen.“ Stefan Mogosky verzog die Mundwinkel, kramte ein Paar Handschuhe aus seiner Manteltasche und beugte sich über die Leiche. Riemenschneider wich einen Meter zurück, wandte den Kopf zur Seite und fasste sich an den Hosenbund. „Beginnen Sie mit der linken Jackentasche! Dort hat sie alle wichtigen ...“ Stefan Mogosky nickte und bat Riemenschneider, näher zu treten. „Sehen wir uns das Ganze gemeinsam an. Hier haben wir ein schwarzes Schlüsseletui mit zwei Schlüsseln.“ „Sagt mir nichts. Aber, was soll’s? Bis heute wusste ich nicht einmal, dass sie überhaupt noch am Leben war.“ „Ein Taschenkalender vom vergangenen Jahr. Die erste Seite wurde herausgerissen.“ „Blätter mal durch!“ Riemenschneider lugte dem jungen Beamten, den er um eine halbe Haupteslänge überragte, über die Schulter. „Oh Entschuldigung.“ Der junge Mann strich mit der Hand über seine blonden Haare, sodass sein Mittelscheitel verschwand: „Schon okay! Übrigens, ich heiße Stefan.“ Außer zwei Zahnarztterminen und dem Vermerk ‚Weihnachtskarten verschickt’, stießen die beiden Männer auf keine weiteren Einträge. In der Geldbörse befand sich ein Betrag von 200 DM in kleinen Scheinen. „Habt ihr den Personalausweis gefunden?“, erkundigte sich Wilfried, zog eine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche und zwinkerte dem einstigen Kollegen zu. „Ich nehme an, du hast nichts dagegen einzuwenden. Und falls doch, dann kannst du mir nichts verbie...“ „Aber ich“, zischte Jakobi. Er nahm Wilfried die Zigarette auf dem Mund und steckte sie in die Schachtel. „Qualm in deiner Freizeit. Das schont den Geldbeutel.“ Man sollte diesem Kerl eins aufs Maul hauen, dachte er. Im Grunde war Wilfried ein Superkollege. Und wer je mit ihm zu tun gehabt hatte, für den war Wilfrieds Macke, Freunde und Kollegen hin und wieder zu provozieren, nichts Außergewöhnliches. Doch dieses Mal ging er zu weit. Stefans rechte Augenbraue schnellte empor, während er mit seinen schlanken Fingern die Brieftasche der Ermordeten durchsuchte. Schließlich nickte er. „Hier ist der Ausweis.“ Doch eine Sekunde später schüttelte er den Kopf und ging zu Jakobi. „Gibt es irgendetwas, das ich nicht wissen darf?“, fragte Riemenschneider. Jakobi zögerte einen Augenblick. „Der gehört Gabi. Zumindest steht ...“ |